Covid-19 lässt uns gerade viel Zeit für wichtige Bücher, Magazine, Zeitungen – und Unentdecktes. Dazu zählt eindeutig das Werk der schottischen Schriftstellerin Nancy Campbell (42). Sie schreibt bevorzugt in der Kälte: in der Arktis, in Island, Grönland, Schottland, der Schweiz. Überall dort ist das Eis. Ihm widmet Nancy jede Zeile. Jede ist ein Weckruf. Mir gab sie tiefe Einblicke in diese ferne Faszination.
„Lange, bevor die Sonne entstand, war es das Eis, das brennen konnte. So sagt es ein arktischer Mythos. Die Menschen entzündeten ihre Lampen, weil niemand in Dunkelheit zum Fischen ausrücken konnte. Heute ist das Meereis leuchtend. Entlang der Küste glitzern geheimnisvolle Objekte in der Dämmerung, ihre Formationen sind unter dem Schnee verborgen. Erst viele Wochen später bringen das Tauwetter des Frühlings und die Sonne das Wesen der Dinge hervor.“
aus: Nancy Campbell, The Library of Ice
Nancy, du hast schon an den kältesten Orten der Erde gelebt und gearbeitet. Deine Arbeit zeigt etwas Einzigartiges auf neue Weise: das Eis. Du kennst seinen Wert für das Gleichgewicht des Planeten besonders gut – und musst in Sorge sein.
Die Veränderungen unseres Ökosystems sind katastrophal. Das schmelzende Eis an den Polen ist nur eine Bedrohung von vielen. Seit ich vor zehn Jahren das erste Mal in der Arktis war, sind die Warnungen von Wissenschaftlern immer dringlicher geworden. Bestehende Gesetze wurden aber kaum verschärft. Die Apathie von Regierungen und Wirtschaft erschreckt mich zutiefst. Immerhin gibt es etwas Licht am Horizont: Umweltthemen nehmen jetzt einen breiten Raum ein. Sie sind kein mediales Randthema mehr. Die Bewegung #FridaysForFuture hat neue Stimmen hervorgebracht, die sich für die Erde einsetzen. Die neue Generation zeigt, dass sie den Mut, die Energie und die Vorstellungskraft hat, die wir für anstehende Herausforderungen dringend brauchen.
Kannst du beschreiben, wie es war, als dir das Eis erstmals richtig auffiel?
Ich wuchs in den späten 1970ern in einem abgelegenen schottischen Weiler auf. Die Winter waren extrem kalt. Einer davon war allen nur als „der Winter der Unzufriedenheit“ in Erinnerung. Die Natur hatte auf mich schon damals einen so viel größeren Einfluss als die wenigen Menschen, die ich traf. In der Kälte gab es ein Einvernehmen und starke Solidarität zwischen Mensch und Natur. Das hat mich berührt. Genauso fesselte mich Gegensätzliches: die Zeitlichkeit von Eis, seine Unbeständigkeit. Eis ist so stark, dass es große Felsformationen auseinanderbrechen kann. So hat es die Form der Erde geprägt. Zugleich ist es extrem empfindlich. Wenige Grad Celsius Unterschied, und es wird flüssig und fließt fort.
Mein Bezug zum Eis war mager, bis ich auf die Insel Upernavik kam. Sie liegt an der Westküste Grönlands. Ich flog mit einem Flugzeug des Typs Twin Otter hin. Unterwegs gab es einen starken Schneesturm. Unfassbar, wie gefährlich das Wetter der Arktis sein kann – ich rechnete nicht damit, die Reise zu überleben. Es gab nur wenige Flüge auf diese Insel. Die Einwohner waren zu der Zeit besonders isoliert: Bis dahin war es im Winter möglich gewesen, über das gefrorene Meer zu laufen, um andere Orte zu erreichen. Plötzlich aber war das Eis zu einer Gefahr geworden, es war unsicher, darauf zu laufen. Sogar Todesfälle hatte es gegeben. Ich sah, welchen Einfluss das Verschwinden des Eises auf die Freiheit der Menschen hat, zu reisen, zu jagen, zu fischen. Ganz traditionelle Tätigkeiten. Meine Sehnsucht nach mehr Wissen über das Eis hatte also auch soziale Gründe.
Die Religion der Inuit ist animistisch. Demnach ist alles beseelt, Mensch, Tier, Fels oder Ozean. In Grönland scheint auch das Eis diese Form von Seelenkraft zu besitzen: Eis ist voller Bewegung und Veränderung. In meiner Zeit in Upernavik habe ich jeden Morgen einen 1-minütigen Film vom Eismeer vor meiner Hütte gedreht. Das Eis sah jeden Tag anders aus. Alles war dabei – vom Eisbrei zu Anfang über das Nadeleis bis hin zu dickem flachem Tellereis. Die stoffliche Seite der Dinge hat mich immer fasziniert – auf der Ebene des Visuellen und auf der von Wissenschaft und Forschung. Während ich The Library of Ice schrieb, las ich in den Schriften von Naturwissenschaftlern aus dem siebzehnten Jahrhundert über die Kälte. Unter ihnen war Robert Boyle, der bahnrechende Beobachtungen im Eis durchführte, auch wenn er dafür nie genug Reagenzgläser hatte und das Wetter oft nicht kalt genug war. Meine Daten jedenfalls sind literarisch und wissenschaftlich.
Das Tintenfässchen ist mein Reagenzglas.
Nancy Campbell
Wie schreibt man in der Kälte?
Ich reise an Orte, auf die ich mich für einen Monat oder länger vollkommen einlasse. Dafür muss ich ein Haus finden, kein tragbares Zelt wie die ersten Polarforscher. Als ich das erste Mal nordwärts reiste, hab ich das teilweise so gemacht. Ein Grund war, dass Wohnen im Vereinigten Königreich für das Einkommen von Schriftstellern unerschwinglich teuer war. Ich arbeitete als Buchhändlerin für antiquarische Bücher und schrieb in den Stunden neben dem Job (und oft währenddessen). Bald reichte mir diese wenige Zeit für meine eigenen Projekte nicht mehr. Ganz in die Kälte umzuziehen, hatte also nicht nur Forschungsgründe. Es war wirtschaftlich notwendig, ökologisch sinnvoll – und es erlaubte mir, mich schreibend zu entfalten anstatt bloßer Herausforderung: Die Kälte bot wertvolle Zeit und Zuflucht.
Übrigens: Als The Library of Ice entstand, fand ich heraus, dass ‚Öko‘ (englisch eco) etymologisch aus dem Griechischen οἶκος stammt. Das bedeutet ‚Haus’ oder ‘Zuhause’ – und steckt auch in ‚Ökonomie‘.
Damals lebte ich ein paar Jahre als Nomadin. Mein Besitz lagerte in einem Storage. Ich hatte keinen festen Ausgangspunkt. Durch Residenzprogramme für Künstler konnte ich immer wieder einige paar Monate an einem Ort verbringen, ungestört und nur auf meine Arbeit konzentriert. Ich wohnte in freien Blockhütten, schachtelartigen Museums-Behausungen, saisonal leerstehenden Hostels. Manche Settings waren auch größer: Meine Recherche für die alpinen Teile in The Library of Ice verbrachte ich in einer Holzvilla im Waadtländer Jura in der Schweiz. Das Haus schwebte in der Luft, eine Hängekonstruktion von Schweizer Architekten. Oft habe ich als Partnerin für Institutionen gearbeitet: Unterkunft im Austausch gegen die Mitarbeit an Kollektionen und Aufträgen. Zum Beispiel in Dänemark. Hier schuf ich die Installation Ljimford Lines für das Doverodde Book Arts Festival und eine Reihe kurzer Texte über die Region, Doverodde.
Du hast also in der Natur wie auch auf Papier das Eis gelesen.
An fast allen „meinen“ Orten gab es eine Bibliothek. Lesen ist für mich die beste Art der Eingewöhnung an neuen Orten. Das gilt besonders für das Upernavik Museum in Grönland. Hier fand ich das Wörterbuch Grönländisch-Englisch. Es wurde für mich eine Art Talisman. Und dann gibt es bei mir natürlich auch die Recherchen zuhause, die vielen Reisen in der Phantasie. Und immer wieder das Lesen: Ich habe so ziemlich alles gelesen, was über Eis in den Bibliotheken Großbritanniens zu finden war.
Meine Arbeit besteht aus Beobachten und Unterhalten. Ich bin viel zu Fuß unterwegs, gern für kurze Distanzen, um Landschaft und Nachbarn kennenzulernen. In Upernavik konnte ich wegen der starken Schneeverwehungen nur bis zum Hafen und zum Friedhof gehen. Auf diese Weise fiel mir auf, dass sich dieselben Orte mit der Zeit immer mehr veränderten. Ich mochte das. Hier liegt einer der Gründe, warum ich mich nicht als „Reiseschriftstellerin“ beschreiben würde: Das steht für ständiges Unterwegssein. Ich aber bin eigentlich daran interessiert, einen einzelnen Ort wirklich zu verstehen. Deshalb waren die Filme über das Eis in Upernavik für mich wichtig. Genaues Hinsehen bedeutet mir mehr als lange Erkundungen.
Auch wenn die Gletscher und Eisberge, die ich gesehen habe, wichtig und unvergesslich sind, faszinieren mich die allgemeineren Formen von gefrorenem Wasser oft mehr. Zum Beispiel die Eiszapfen, die in Siglufjörður von der Dachrinne herabhingen. Siglufjörðu ist eine kleine Hafenstadt in Nordisland. Diese Eiszapfen veränderten sich täglich. Die Länge war ein Gradmesser für die Schneeschmelze durch die Wellblech-Dächer: Das Wasser wurde auf seiner Reise abwärts gestoppt. Als ich die Stadt im April verließ, waren die Eiszapfen verschwunden. Das Eis stand für das Vergehen der Zeit, den Lauf der Jahreszeiten – und für meinen eigenen begrenzten Aufenthalt in Island.
Was macht es mit dir als Künstlerin, wenn du länger im Eis warst?
Ich habe meine Arbeiten für unterschiedliche Medien produziert, angelehnt an den Ort und an Aufträge. Mein erstes Buch, How To Say ‘I Love You’ In Greenlandic, war ein großformatiges Letterpress-Buch über das Alphabet, das Eisberge zeigte: im Labor gedruckte, bunte Schablonendrucke von Eisbergen. Dahinter lag die Idee, bei der Herstellung die gleichen Recherche-Prinzipien auf die Erfassung von Eisbergen anzuwenden wie Pariser Modehäuser in den 1920-ern. Später arbeitete ich im Bereich Fotografie. Dabei heraus kamen Bücher wie ITTOQIPPOQ und Vantar|Missing, die beide zufällig auf Stoffe, auf Gewebe anspielen. In ITTOQIPPOQ geht es um gefrorene Wäsche auf Wäscheleinen in Grönland. Vantar|Missing handelt von lawinengefährdeten Hängen oberhalb der Stadt Siglufjörður. Visuelle Arbeiten habe ich immer um Essays und Gedichte ergänzt. In letzter Zeit habe ich mich auf Sachbücher konzentriert: mit The Library of Ice.
Wie beschreibst du die Verbindung zwischen Eis und Poesie?
Die eigentliche “Bibliothek” in The Library of Ice ist nicht vom Menschen gemacht. Ich habe mit Kälteforschern gesprochen, die die Erdgeschichte bestimmen, indem sie enorme Eisschilde in Grönland und der Antkartis aufbohren. Sie schneiden Kerneis in wasserdünne Scheiben, die sie dann lagern und analysieren. Diese Scheiben von Eis enthalten mikroskopisch kleine Ablagerungen und chemische Spuren, die Rückschlüsse auf das Klima vergangener Jahrhunderte erlauben. Die Komplexität dieses Prozesses – und die Vorsicht der Forscher dabei – haben mich nicht mehr losgelassen. In etwa so gehe ich beim Buchbinden und Drucken vor: die stoffliche Kreation einer Geschichte.
Kälteforscher verwenden einen Begriff aus der Poesie, um das Eis des Sommers und das Eis des Winters mit seiner wechselnden Dichte zu umschreiben: Sie nennen es den „Tiefenplatten-Eisnebel-Zweizeiler“ (engl. „depth-slab/wind-hoar couplet”). Wie die Schlusszeilen eines Sonnets!
Nancy Campbell
Die Synergie von Sprache und Landschaft, aber auch die Metapher von der Landschaft als Buch ist nicht neu. Schon der schottische Naturalist John Muir schrieb in Reisen in Alaska (1879) ekstatisch über Gletscher als die „Seiten eines Buches“. Wahrscheinlich war die Dichterin in mir neugierig: Wie weit lässt sich diese Metapher ausdehnen? Welchen Einfluss hat sie auf andere Kontexte? Wie ist ihre Umsetzung in einer Ära der Klimakrise, in der die Hoffnung darauf, dauerhafte Belege und Aufzeichnungen zu hinterlassen, verschwindet und die Zukunft unseres Planeten nicht mehr sicher ist?
Mein Gedicht “The Vostok Ice Core Gives a Creative Writing Lesson” handelt von diesen Ideen. Das Kerneis selbst spricht dabei Regeln aus. Es sagt zum Beispiel: “Sei vollkommen. Erzähl die ganze Geschichte: jeden Tag, in jeder Jahreszeit, im Sommer und Winter, von jetzt an bis zum Anbeginn der Zeiten.”
Welchen Ort des Nordens mochtest du am liebsten?
Es war ein großes Glück, reisen zu können und an so vielen Orten willkommen gewesen zu sein. Jeder davon war eindrucksvoll, und ich hatte nie wirklich einen Lieblingsort. Ich glaube, ich mag immer den Ort am liebsten, an dem ich gerade bin. Das ist meine Art. Das Land allerdings, in das ich sehr gern zurückkehren würde, um es dann nicht wieder zu verlassen, wäre Island: ein Ort, an dem ich vollkommen zufrieden war. Ich liebe die dampfenden Schwefelquellen, die Berge, die enorme Bedeutung des Geschichtenerzählens in ihrer Kultur. Ich mag die Menschen und ihren charakteristischen Mix aus Herzlichkeit und Distanz.
Es gibt dort ein Tal, Fljótsdalur, in dem ich im September und October war, die Zeit, in der die Schafe von den Bergen hinab getrieben werden. Hier lebte einer der berühmtesten isländischen Romanautoren, Gunnar Gunnarsson. Er baute sich ein sehr ungewöhnliches Steinhaus, das heute ein Museum ist, das auch ein Residenzprogramm für Künstler anbietet. Dort war ich, während ich mein Manuskript von The Library of Ice fertiggeschrieben habe. Ich hab also viel Zeit am Schreibtisch verbracht. Dorthin würde ich gern noch einmal zurückkehren. Am liebsten in der Pilzsaison. Dann würde ich die Wege erkunden, die ich noch nicht zuende gehen konnte. Ich würde tagelang in den Hügeln verschwinden. Mit Notizbuch.
Welche Pläne hast du für Deutschland? Du warst 2019/2020 als Künstlerstipendiatin in Bamberg.
Ja, ich war seit April 2019 bis Anfang 2020 dort. Eigentlich waren noch Veranstaltungen in Berlin und München geplant, das Schamrock Festival ist im Oktober. Bamberg war eine produktive und friedliche Zeit, die Villa Concordia, in der ich sein durfte, ist eine fast unwirklich schöne Villa aus dem 17. Jahrhundert, ein Wasserschloss auf der Regnitz. Hier war ich mit 12 anderen Autoren, Künstlern und Komponisten. Ich habe dort an einem Buch über Schnee an unterschiedlichen Orten der Welt gearbeitet, eine Fortsetzung von The Library of Ice, Es wird 2020 bei Elliott and Thompson erscheinen. Daneben habe ich an Gedichten über Flüsse weiter gearbeitet. Damit hatte ich im letzten Jahr begonnen, als ich Canal Laureate in Großbritannien war.
Die meisten meiner Künstleraufenthalte währten für maximal eine Jahreszeit. Bamberg war ein Privileg, ich durfte fast ein Jahr dort sein. Umzuziehen und durch die Dauer den Verlauf der Jahreszeiten an einem Ort mitzuerleben, hat die Entwicklung meiner Arbeit stark beeinflusst. Und das ausgerechnet in einer Zeit, in der die Regierung meiner Heimat Europa den Rücken zuwendet – tragischerweise, glaube ich. Es war besonders kostbar, jetzt die Zeit zu haben, die Arbeit deutscher Kollegen kennenzulernen.
Gibt es einige deine Werke schon in deutscher Übersetzung?
Ein paar Gedichte, ja. Auszüge aus The Library of Ice in einer Übersetzung von Hans Jürgen Balmes gibt es im Journal Neue Rundschau.
Daneben gibt es neue Fluss-Gedichte, zum Beispiel eins von einem Abstecher nach Basel, in meiner Schrift Navigations. Bamberg findet seinen Niederschlag in verschiedenen Aufsätzen und Gedichten von mir aus 2020, am ausdrucksvollsten vielleicht im Bamberger Magazin Concordi.A. Das Künstlerhaus dort war im 20. Jahrhundert ein chemisches Institut des Staates Bayern. An der Hausfassade hängt eine Plakette, die auf den Chemiker Walter Noddack und seine alleinige Entdeckung des chemischen Elements Rheniums hinweist. Ich entschied mich, Ida Tacke mit einem Text zu ehren. (Sie hieß später Ida Noddack, nachdem sie Walter geheiratet hatte.) Ida Tacke war eine der ersten Frauen, die in Deutschland Chemie studierten, und ein Teil des Teams, das das Rhenium entdeckte. Sie wies auch auf die Möglichkeit einer Kernspaltung hin und wurde drei Mal für den Nobelpreis vorgeschlagen. Mein Gedicht “How to Discover an Element” feiert Idas Leben und die Bedeutung künstlerischer und wissenschaftlicher Zusammenarbeit.
Vielen Dank und alles Gute, Nancy!
Noch mehr Informationen:
- Nancy auf Instagram
- Nancys Website
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