Was diese Wände wohl erzählen würden, könnten sie es? Die Frage stelle ich mir oft in Häusern, in die ich komme. Der Debütroman der Autorin Juliana Kálnay, Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens, ist für mich eine besondere Art von Antwort darauf.
Im Zentrum steht ein größeres Mietshaus, von dem der Leser nur die Hausnummer erfährt, 29. Bald schon tauch ich als Leserin dafür umso tiefer ein in das Leben, dem das Haus die Form gibt. In lose aneinandergereihten Kapiteln bewege ich mich durch die Etagen. Erleben die Hausbewohner, unter ihnen Lukas, Rita, Oskar oder die kleine Maia. Ich werde Zeugin von Gesprächen, Wegen, Dunklem. Beinahe spürbar ist der Herzschlag des Hauses, während ich mich in Wohnungen befinde, im Fahrstuhl, in Schränken, Keller, Nischen. Alles hier, so scheint es, hat einen doppelten Boden.
Besonders ist auch die Form des Romans: Juliana Kálnay erzählt ohne logische Reihenfolge. Auf organische Weise gerät der Leser mitten hinein in den Lebensraum Haus. Auf diese Weise ist erfahrbar, wie es wirklich ist, einzutauchen in die Leben neben, über, unter uns. Gebannt von der Macht der eigenen kleinen Wahrnehmungen im Alltag, von Stille, Rückzug und den vielen Hohlräumen dazwischen, ist Platz für Suggestion. Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens spricht für sich. Zeit für ein Interview mit der Autorin.
Juliana Kálnay über das Schreiben, ihre Vorbilder und Post-it-Einfälle.
Liebe Juliana Kálnay, wie lange haben Sie an Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens gearbeitet?
Von der ersten geschriebenen Zeile bis zum fertigen Roman sind über sechs Jahre vergangen. Allerdings habe ich in dieser Zeit nicht durchgängig an dem Text geschrieben. Zwischendurch gab es durchaus Phasen, in denen das Manuskript eine Weile in der Schublade ruhte.
Als Autorin veröffentlichen Sie schon länger. Welches ist Ihre liebste literarische Form?
Für mein eigenes Schreiben? Ich denke, dass mir kürzere Formen oft leichter gefallen sind. Wahrscheinlich habe ich deswegen auch einen Roman geschrieben, der sich aus vielen einzelnen „Textpuzzlestücken“ zusammensetzt.
Sie haben „Literarisches Schreiben“ in Hildesheim studiert.
„Literarisches Schreiben“ hieß der Master. Ich hatte zuvor schon den Bachelor „Kreatives Schreiben & Kulturjournalismus“ in Hildesheim gemacht. Darauf war ich in der Abiturzeit bei meiner Recherche nach Studienangeboten gestoßen. Beworben habe ich mich allerdings erst ein Jahr später.
Die Schreib-Neigung war also da?
Ohne vorher zu schreiben hätte ich mich wohl nicht beworben. Ich habe als Kind und auch als Jugendliche immer schon gern Geschichten geschrieben. Als ich dann vor dem Abitur die Studiengangsbeschreibung las, fand ich, dass das ziemlich gut auf meine Interessen passt.
Ihre beste Erinnerung an Ihr Studium?
Ich könnte nicht die eine Erinnerung benennen. Aber ich habe in dieser Zeit einige tolle Menschen kennengelernt, mit denen ich noch heute befreundet bin und mit denen es einige denkwürdige Momente gab.
Ihre literarischen Vorbilder?
Da muss ich natürlich den argentinischen Autor Julio Cortázar nennen, von dem ich mir in der Art und Herangehensweise an Literatur einiges abgeguckt habe. Außerdem war bei der Arbeit an meinem Roman auch Georges Perec sehr wichtig, ein Franzose, der 1978 einen Roman veröffentlicht hat, der sich ebenfalls komplett in einem Mietshaus abspielt. Der funktioniert allerdings von der Anlage her etwas anders. Und es gab einzelne Texte und Autoren, die mich für einen bestimmten Ton oder eine Erzählperspektive weitergebracht haben, z.B. Aglaja Veteranyi.
Ein Lieblingsroman?
Ein Titel, den ich erst vor kurzem gelesen habe und der mich auf vielen Ebenen sehr beeindruckt hat: Das große Heft von Agota Kristof. Ich finde es übrigens schade, dass es bei der Frage nach Lieblingsbüchern meistens um Romane gehen soll. Es gibt auch viele Erzählungen, die ich sehr toll finde. Ausserdem habe ich häufig eine Schwäche für Bücher, die etwas aus der Reihe tanzen und die Form des Romans sprengen oder sich gar nicht richtig in eine Gattungsschublade stecken lassen.
An welche besonderen Erzählungen denken Sie da?
Von Julio Cortázar, den ich schon genannt habe, gibt es viele Erzählungen, die ich sehr toll finde. „Autobahn nach Süden“ fällt mir spontan ein und „Besetztes Haus“. Das sind zwei seiner bekanntesten. Auch Jorge Luis Borges, den ich sehr schätze, ist eher für kürzere Textformen bekannt, z.B. in seinen Ficciones. An etwas aktuelleren Beispielen fällt mir der Band Seltsame Materie von Terézia Mora ein. Da mochte ich die Stimmung in vielen Erzählungen sehr gerne. Auch vieles aus dem Band Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes von Clemens J. Setz gefiel mir. Und, das ist wahrscheinlich das jüngste Beispiel und bisher auch noch nicht auf Deutsch erschienen, den Band Las cosas que perdimos en el fuego von Mariana Enriquez.
Ich kann übrigens auch sehr empfehlen, mal einen Blick auf „The Short Story Project“ zu werfen. Da gibt es einige lesenswerte Erzählungen aus unterschiedlichen Sprachen zu entdecken.
Notieren Sie sich im Alltag Dinge?
Nicht so oft, wie man vielleicht denken könnte. Ich habe es im Studium eine Zeit lang versucht und bin irgendwann zu dem Schluss gekommen, dass Erinnerung sowieso der beste Materialfilter für mich ist. Aber manchmal schreibe ich mir ein Zitat ab, auf das ich irgendwo stoße. Oder ich schrecke aus dem Schlaf hoch und notiere ein Wort auf ein Post-it, nach dem ich tagsüber noch lange gesucht hatte.
Wo und wie bringen Sie Gedanken aufs Papier?
Zuhause am Schreibtisch. Und wenn es nicht gerade ein Post-it-Einfall ist, direkt auf dem Laptop.
Sie schreiben auf Deutsch und Spanisch. Bevorzugen Sie eine dieser Sprachen? Gibt es Unterschiede im Schreibprozess?
Früher habe ich viel mehr auf Spanisch geschrieben. Das fiel mit Beginn des Studiums in Deutschland etwas unter den Tisch. Die Werkstattkontexte, in denen ich mich da bewegt habe, waren deutschsprachig. Aber beim Schreiben gab es trotzdem zwischendurch immer mal einzelne Sätze, die mir eher auf Spanisch in den Sinn kamen. Leider habe ich die meisten von ihnen wieder vergessen. Das wäre mir nämlich momentan eine große Hilfe. Denn ich bin gerade dabei, mein Debüt selbst ins Spanische zu übersetzen. Aber ein Übersetzungsprozess verläuft nun mal anders als der ursprüngliche Schreibprozess. Darum kann ich die Frage nach den Unterschieden nicht wirklich beantworten, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass der Prozess des Schreibens bei mir im Spanischen anders ablaufen würde, als auf Deutsch. Die Unterschiede finden dann eher auf der sprachlichen Ebene statt.
Manche Schreiber haben einen Lieblingsort außerhalb des eigenen Raums. Sie auch?
Zum Schreiben, meinen Sie? Ich kann leider schlecht an öffentlichen Orten wie Cafés oder Bibliotheken arbeiten, deshalb, wie gesagt, eher am eigenen Schreibtisch. Ich fände es auch sehr praktisch, wenn ich gut im Zug arbeiten könnte, das kann ich auch nicht. Aber immerhin komme ich dort zum Lesen.
Danke und alles Gute, Juliana Kálnay!
Juliana Kálnay, geboren 1988 in Hamburg, wuchs in Deutschland und Spanien auf. Texte veröffentlichte sie bereits in deutsch- und spanischsprachigen Anthologien und Zeitschriften. 2016 erhielt sie das Arbeitsstipendium Literatur der Kulturstiftung des Landes Schleswig-Holstein. Sie lebt in Kiel.
Für Eine kurze Geschichte des allmählichen Verschwindens erhielt Juliana Kálnay den aspekte-Literaturpreis 2017 des ZDF.
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