Viele Jahre fotografierte Alea Horst vor allem Familien und Hochzeitspaare. Seit 2017 sind es auch Menschen in Flüchtlingscamps. Was Kinder und Jugendliche im griechischen Moria ihr erzählten und wie sie selbst vor Ort arbeitet und schreibt, hat sie mir erzählt.
Alea Horst lebt mit ihrer Familie in einem kleinen Ort in Rheinland-Pfalz. Lange machte ihr Job als Familien- und Hochzeitsfotografin sie glücklich – bis ihr 2016 eine Lebensfrage dazwischen kam.
„Wie möchte ich auf mein Leben zurückblicken, wenn ich alt bin?“, fragte sie sich. „Es gibt viel zu viele Dinge auf der Welt, die ich nicht mehr ertragen kann.“ Sie dachte an ihre Großeltern, „die nicht aktiv gegen die Ungerechtigkeit im zweiten Weltkrieg vorgegangen waren“, wie sie in ihrem Blog schreibt. Unvorstellbar für sie „dass meine Kinder und Kindeskinder mich fragen, warum ich nichts getan habe. Nichts getan gegen Umweltverschmutzung, Armut, Ungleichheit, egal.“
Sie buchte ein Flugticket nach Lesbos und begann, den Menschen zu helfen, die über das Mittelmeer vor Krieg und Gewalt geflohen waren. Heute bereist Alea Horst Krisengebiete von Bangladesh über Syrien bis Rumänien. Immer wieder war sie auf Lesbos. 2022 erschien im Klett Kinderbuchverlag ihr erstes Buch, das die Kinder in den Camps in Moria zeigt.
Alea Horst, Ihr Buch entstand auf der Grundlage Ihrer Einsätze in Moria. Wie oft sind Sie in Griechenland?
Ich bin bisher acht Mal in Lesbos. Mein erster Einsatz war 2016. Damals traf ich das erste Mal in meinem schönen Leben mit Menschen mit Todesangst zusammen.
Sie schrieben damals in ihrem Blog von ihrer Arbeit dort, von 18-Stunden-Einsätzen am Stück für all die ankommenden Menschen, davon, wie Sie unterkühlte nasse Kinder trugen, im „Gefängnis Moria Kleiderspenden sortierten, immer zu wenig für all die nassen Menschen, die die Überfahrt mit dem Schlauchboot gewagt hatten“. Wie schaffen Sie es, vor Ort zu schreiben?
Ich führe viele Gespräche. Mittlerweile zeichne ich sie per Diktiergerät auf. Gerade bei den Interviews für das Kinderbuch war es mir wichtig, die Sprache der Kinder so exakt wie möglich wiederzugeben. Früher habe ich eher Notizen gemacht, aber das hat nicht gut funktioniert. Manchmal wiederholen die Menschen im Interview etwas, einzelne Sätze oder Wörter, was mir zeigt, wie sehr sie dieses Erlebnis beschäftigt. Würde ich nur Notizen machen, könnte ich hinterher womöglich die Prioritäten so nicht mehr abrufen.
„Mein Papa sagt immer: Sei nicht traurig. Das Leben wird irgendwann einfacher werden. Eines Tages werden wir woanders sein.
Ich liebe Fußballspielen. Das ist das Einzige, das mich glücklich macht. …Wenn der Moment kommt und ich ein Tor schieße, dann habe ich eine Minute lang Freude und kann das alles vergessen. Es gibt nichts, was hilft, dass ich diese Traurigkeit nicht in mir spüre – nur Fußball.“
Alireza, 13 Jahre, lebt im Kara Tepe Containerlager
Generell ist es für mich aber psychisch am besten, wenn ich die Transkripte und die Bearbeitung der Bilder in den Ländern dort in der Freizeit, oder spätestens alles besonders Kritische am Flughafen erledigt habe. Es ist schwer genug, wieder zuhause anzukommen.
Ich weiß nicht wie das andere AktivistInnen machen, aber ich muss in Krisenregionen auf meine eigene Psycho-Hygiene achten. Daher höre ich immer auf meine Intuition und habe keinen festen Workflow. Wenn es mir abends nicht gut geht, dann arbeite ich eben nicht an meinen Fotos oder an Texten, sondern ruhe mich aus. Ich möchte diese Arbeit noch lange machen können und ich nutze niemandem, wenn ich an dem Gehörten und Geschehenen selbst zerbreche.
Wie erlebten Sie die Kinder beim kreativen Tun? Schafft das einen inneren Raum, einen Platz für ihre eigene Kraft, für mögliche Perspektiven?
Es gibt nur wenige Nichtregierungs-Organisationen (NGOs), die überhaupt die Möglichkeit erhalten, die Kinder kreativ zu fördern oder ihnen gar Schulunterricht zu geben. Dazu die Unsicherheit über den Asylprozess, die Gefahr im Lager, das alles zermürbt die Kinder. Die Fremdbestimmung durch die Behörden entzieht allen irgendwie die Möglichkeit, an einer guten Zukunft zu bauen oder an Perspektiven zu arbeiten.
Zum Teil sind die Kinder seit Jahren nicht in die Schule gegangen oder manche nur ein paar Monate in ihrem Leben. Ein Kind berichtet im Buch, es stehe auf und warte einfach, bis der Tag vorbei ist.
Dennoch liegen auf den Schultern der Kinder große Erwartungen und alle Hoffnung der Familie. Die Eltern sind ja nur im Lager wegen ihrer Kinder. Sie möchten für die Kinder ein besseres Leben haben.
„Man kann krank werden, wenn man Moria betritt. Weil es so schrecklich ist und man es nicht erwartet hat.
Ich hatte mir ein Zuhause gewünscht. Stattdessen wurden wir alle in ein ganz enges Zelt gequetscht. Es war viel zu klein. Und es gab keine Schule.“
Neda, 13, lebt mit ihren Eltern und Geschwistern sowie ihrer Oma im Kara Tepe Containerlager
Je häufiger die Kinder etwas Schreckliches erlebt haben – ein Trauma im Heimatland, die Todesangst bei der Bootsfahrt oder Gewalt auf der Flucht, die Feuer in den Lagern und die Gewalt, mangelnde Versorgung von Krankheiten der Familienangehörigen -, desto weniger können sie überhaupt noch etwas Positives empfinden. Sie haben irgendwann keinen Zugriff mehr auf eine schöne Erinnerung in ihrem Leben, sei es eine Geburtstagsfeier oder ein schöner Tag ohne Krieg. Es ist nichts mehr da.
Besteht auch nur ansatzweise die Chance, den Kindern die fehlende Schule durch ein gutes Miteinander zu „ersetzen“?
Nein. Die Kinder müssen etwas lernen, um sich integrieren zu können. Sie sind für die Familien der Schlüssel heraus aus Armut und Existenzangst. Die Familien haben die Strapazen und Todesängste auf der Flucht für diese Kinder auf sich genommen, damit sie ein besseres Leben haben.
Den ganzen Tag im Lager zu sitzen und zu warten, bis der Tag vorbei ist, während die Uhr für die Kinder tickt, ist kaum auszuhalten. Manche Kinder sind seit Jahren nicht zur Schule gegangen. Wie sollen sie das irgendwann nachholen und eine neue Sprache lernen?
Gibt es Bücher?
Verschiedene Initiativen und NGOs haben Bücher. Allerdings ist es sehr schwer, die Kinder damit zu erreichen. Die meisten Vereine dürfen nicht im Lager tätig sein.
Haben Sie es schon erlebt, dass es Familien oder minderjährigen Geflüchteten gelang, in eine bessere Zukunft zu gehen?
Die meisten der Kinder im Buch sind zwei Jahre im Lager gewesen. Ich habe aber auch schon Familien getroffen, die seit vier Jahren warten, bis es weiter geht. Andere brauchen nur sechs Monate, bis sie ihre Papiere erhalten. Es ist eine große Behördenwillkür.
Ein paar der Kinder aus dem Buch sind mittlerweile in Deutschland. Allerdings hat bisher keine von ihnen dort eine Asylantwort bekommen. Das jahrelange Bangen geht hier also weiter oder beginnt von Neuem. Die Kinder fühlen sich deutlich besser, aber ich habe große Sorge um sie. Letzte Woche wurde beschlossen, dass eine Familie von Bayern aus zurück nach Griechenland abgeschoben wird. Viele Geflüchteten sind Zeit ihres Lebens ein Spielball politischer Mächte.
Ein Kind aus dem Buch hat mir erst letzte Woche erzählt, dass seine Familie seit Monaten im Ankerzentrum lebt, während die ukrainischen Familien maximal zwei Wochen bleiben und dann auf Wohnraum verteilt werden.
„Ich träume manchmal, in Deutschland zu sein. Ich sehe dann ein großes Haus. Das Haus, das ich mir vorstelle, ist rot. Ich liebe die Farbe Rot. Meine ganze Familie hat in diesem Haus Platz. Und ich träume dann, dass ich mit meinem Bruder im Hof spiele. Das ist mein schönster Traum. Manchmal sitzen wir im Schatten unter den Bäumen im Garten.“
Rukia, 11, ist seit ihrem sechsten Lebensjahr mit ihrer Familie auf der Flucht
Was hilft den Kindern vor Ort am meisten?
Projekte, die den Kindern einen sicheren Raum geben, um kreativ zu werden und etwas zu lernen. Das gilt übrigens auch für Erwachsene. Es gab mal ein Projekt, in dem auch Geflüchtete unterrichten durften. Leider ist das heute wieder verboten. Damals hat mir ein afghanischer Lehrer gesagt: ‚Ohne die eine Stunde Unterricht die ich gebe, würde ich das Leben hier im Lager nicht überleben, ich würde daran zerbrechen.‘
Ein Kind im Buch sagt: „Es gibt keine Medizin gegen diesen Ort hier, der die Menschen krank macht“. Die größte Sehnsucht der Kinder ist ein sicheres Zuhause, in dem sie Platz für Kraft und Perspektiven haben. In der Zwischenzeit geht’s einfach nur ums Überleben.
„Mein Zimmer ist einfach meine Matratze. Die Matratze von meiner Schwester ist total voll. Sie hat ganz viele Bücher auf der Matratze liegen. Deshalb sagen wir oft, sie schläft in der Bibliothek. Ich schlafe obendrüber. Wie ein Affe hüpfe ich nach oben. Ich bin froh, dass ich oben schlafe, dann kann mein kleiner Bruder nicht an meine Sachen.“
Arash, 13, lebt in einer Iso-Box im Containerlager Kara Tepe
Herzlichen Dank für das Gespräch, liebe Alea Horst!
Weitere Informationen:
Buch Manchmal male ich ein Haus für uns, Alea Horst, Illustrationen von Mehrdad Zaeri, Klett Kinderbuch, 2022
Alea Horst ist nicht nur als Fotografin und Nothelferin tätig, sondern organisiert immer wieder Hilfsaktionen, Ausstellungen und Workshops. Wer ihre Arbeit unterstützen möchte, kann das über den Verein tun, den sie gegründet hat, Alea e.V.
0 Kommentare zu “Autoren | Moria: Alea Horst gibt Kindern und Jugendlichen in Flüchtlingslagern eine Stimme und widmet ihnen ein Buch”