Tagebücher beflügeln: Über sich selbst zu schreiben, macht Freude und setzt Energien frei. Ob klassisches Diary, Bullet Journal oder Notizbuch – überall da lassen sich Gedanken und Erlebtes notieren. Viele Menschen finden das kaum je wertvoller als in Krisenzeiten. Olaf Georg Klein, Zeit-Experte, setzt auf das Tagebuch. Im Interview erklärt er mir, warum.
„Die Termin-App hat keine Seele“, schrieb Journalist Philipp Albrecht Anfang 2019 im Magazin Bilanz. Seine Feststellung klang beruhigend: Elektronische Geräte haben für erstaunlich viele Menschen nicht annähernd die Qualität des Analogen. „Viele kehren zur Papier-Agenda zurück.“
Ob schriftliche Agenda, Bullet Journal, Change Journal oder Notizbuch: Die Auswahl an Begleitern aus Papier im Handel ist riesig. Da ist zum einen das gute alte Heft mit Blanko-Seiten. Es eignet sich als Notizbuch und Tagebuch – für jeden Tag, jedes Jahr, das Leben. Es gibt sie bunt und im Handtaschenformat (z.B. von Reclam oder Suhrkamp) oder in schwarz mit Hard- oder Softcover (u.a. Moleskine).
Eine interessante Variante sind japanische Diairies, die sich über 3, 5 oder 10 Jahre führen lassen, sie sind liniert (Midori). Pro Tag ist hier ein Eintrag vorgesehen, meist kurz. So bleibt ein Schreiberling bei Laune.
Andere sind strukturiert, stellen Fragen an den Besitzer, sortieren Gedanken und helfen uns auf die Sprünge. Dazu gehören Change Journals und achtsame Terminkalender wie Ein guter Plan. Von viel positiver Nutzer-Resonanz sprechen auch die jungen Macher des Planers Das 6-Minuten-Tagebuch. Dahinter steht der Gründer Dominik Spenst. Das Tagebuch, das bei Rowohlt verlegt wird, verlangt dem Nutzer drei Minuten am Morgen und drei Minuten am Abend ab, um sich auf das Gute im eigenen Leben zu fokussieren. Das tun bereits über 300.000 Nutzer, Tendenz steigend.
Auch der Planer The New You regt dazu an, sich selbst und seine Ziele zu reflektieren. Lernen, Ausarbeiten und Anwenden: Das ist der Dreischritt, den Nutzer in The New You vollziehen. Toolbox, Kalender und zahlreiche Anleitungen helfen dabei, sich selbst auf die Spur zu kommen. Entwickelt hat den Planer die Münchnerin Iris Reiche.
Das Corona-Tagebuch tauchte als Begriff erstmals im Frühling 2020 auf. Mitten in der Pandemie begannen Menschen in aller Welt und bald auch Schriftsteller und andere Kreative, digital und auf Papier ihre Gedanken und Erlebnisse dieser besonderen Zeit festzuhalten. Die Produzenten des achtsamen Planers Ein guter Plan bieten nun gratis ein spezielles Tagebuch für diese Zeiten, das die Selbstfürsorge befördert: Es trägt den schönen Titel Ein guter Winter, umfasst 100 Tage, ist undatiert und hier download- und ausdruckbar. Therapeuten, Ärzte und soziale Stellen dürfen es ohne Rückfrage vervielfältigen.
Bullet Journals unterstützen die Umsetzung von Plänen und Terminen in allen Lebensbereichen. Die gleichnamige „Bullet Journal Method“ stammt von Ryder Carroll, Produktdesigner in Brooklyn (NY, USA). Seine Grundüberlegung: eine eigene graphische Methode zur Fixierung und Bearbeitung von Zielen. Für die eigene Phantasie soll dabei viel Raum bleiben. Carrolls Journal erscheint bei uns in Kooperation mit „Leuchtturm1917“. Wer noch mehr wissen möchte: Es gibt eine eigene Bullet Journal Community, die sehr aktiv ist und sich gegenseitig inspiriert.
Was genau macht es nun so spannend, ein Tagebuch zu führen?
Leidenschaft Tagebuch: Ein Interview mit Olaf Georg Klein
Das Tagebuchschreiben ist für viele Menschen eine lebenslange Leidenschaft. Momente des Alltags zu notieren, befreit und schafft einen treuen Begleiter. Der Blick in ein altes Tagebuch kann so schonungslos wie berührend sein. Was wir geschrieben haben, zeigt, wer wir einmal waren und was unser Leben ausmachte. Das Tagebuch, sagt man, hält uns buchstäblich in der Zeit.
Olaf Georg Klein, Coach und Autor aus Berlin, hat ein Buch darüber geschrieben: Tagebuchschreiben (erschienen bei Wagenbach). Er ist Mitglied im Verein zur Verzögerung der Zeit und hilft Menschen dabei, ihre Zeit bewusster zu nutzen. Mir erklärte Klein, was das Schreiben mit uns und unserem Zeitempfinden macht.
Herr Klein, das Tagebuch kann ja sehr oberflächlich sein. Wie genau führt es uns nach innen?
Oft meinen Menschen, die kein Tagebuch schreiben, dass in einem Tagebuch vor allem äußere Ereignisse notiert werden. Das ist aber keinesfalls so. Besonders das, was in uns lebt, was wir wahrnehmen und spüren, aber noch nicht in Worte fassen können, ist das, was so ganz nebenbei seinen Weg ins Tagebuch findet. Und selbst wenn äußere Dinge beschrieben werden, kommen dabei unsere ganz eigenen Perspektiven zum Vorschein. Wie wir ein Gespräch wahrgenommen, ein Ereignis interpretiert haben und so weiter.
Werden wir für so etwas also erst durch das eigene Tagebuch sensibler?
Ja, genau. Wir werden wacher und sensibler, sowohl für uns selbst als auch für das, was uns umgibt. Unsere Aufmerksamkeit nimmt zu. Die Konzentration beim Schreiben führt – gerade in dieser Zeit der Ablenkung und der Fixierung auf das Äußerliche – zurück zu einer größeren Selbstzentrierung und Klarheit. In meinem Buch stelle ich das genauer dar.
Sie bezeichnen das Tagebuch als gedehnte oder verdichtete Zeit. Was empfinde ich, wenn ich gerade Erlebtes notiere?
Wir können nicht so schnell schreiben, wie wir denken und fühlen. Deshalb führt das Schreiben zu einer interessanten Verlangsamung unserer schnell kreisenden Gedanken und Emotionen. Und da wir oft mehr Zeit brauchen, ein Ereignis zu beschreiben, als dieses selbst gedauert hat, führt das obendrein zu einem gewissen „Zeitlupeneffekt“. In der Zeitlupe sieht, erkennt und versteht man ja mehr als in der Normalgeschwindigkeit. Die Zeit dehnt sich. Und verdichtete Zeit ist es, weil man ganze Monate und Jahre des eigenen Lebens noch einmal in komprimierter Form an sich vorbeiziehen lassen kann.
Welche Rolle spielt das Schreiben selbst?
Wir müssen da unterscheiden. Es gibt das Schreiben an andere, wie zum Beispiel in einer Mail oder in einem Brief. Es dient vor allem der Informationsübermittlung. Daneben gibt es das Schreiben, das vor allem zu einer vertieften Selbsterkenntnis führt. Es bringt neue Einsichten und Zusammenhänge hervor, regt zur Selbstverständigung und Selbstreflexion an. Das ist etwas, was wir nicht unbedingt schon in der Schule lernen, sondern erst später selbst entdecken können und müssen.
Welchen Stellenwert hat das Schreiben für Sie persönlich?
Ich schreibe selbst seit meinem 16. Lebensjahr Tagebuch. Es ist für mich selbst und meine persönliche Einwicklung gar nicht hoch genug einzuschätzen. Als ein ständiger Reflexionspartner erinnert es mich an meine Vorsätze, hält es Veränderungen und Brüche fest, erinnert mich an Irrtümer und kluge Entscheidungen gleichermaßen. In Zeiten der Diktatur, des revolutionären Umbruchs, dem Ankommen in einer neuen Gesellschaft war es mir ein treuer Begleiter. Das ist es jetzt seit 40 Jahren. Zugleich ist es eine Sammlung von Ideen und Gedanken, aus denen über die Jahre viele meiner Bücher entstanden sind.
Verraten Sie uns ein damit verbundenes Erlebnis, das Ihnen besonders viel bedeutet?
Oh, da muss ich passen. Es sind zu viele und immer wieder andere bedeutsame Erfahrungen, die ich mit meinen Tagebüchern mache. Erlebnisse beim Wiederlesen, die mich in bestimmten Stunden überraschen, in anderen erschrecken und wieder anderen erfreuen. Am ehesten kann ich sagen, dass ich es über alle Maßen genieße, wunderbare Momente und Höhepunkte meines Lebens immer wieder nachlesen und noch einmal neu erleben zu können. Das macht mich sehr dankbar und erfüllt mich immer wieder mit großer Freude.
Unter den vielen weltbekannten Menschen, die ein Tagebuch führten: Wer ist Ihr liebster Diarist?
Ehrlich gesagt, ist es das Tagebuch der Etty Hillesum. Es ist gar nicht weltbekannt und unter dem Titel Das denkende Herz erschienen. Sie hat es in den Jahren 1941-1943 in Amsterdam geschrieben. Diese junge Frau entwickelt sich in diesen zwei Jahren von einem schüchternen und unsicheren Mädchen zu einer existentiellen Autorin – die zu Aussagen findet, die einem manchmal den Atem nehmen. Man kann in diesem Tagebuch ihren geistigen und emotionalen Reifungsprozess auf das Genaueste miterleben. Deswegen beziehe ich mich in meinem Buch über das Tagebuchschreiben auch sehr häufig auf sie, weil an ihren Aufzeichnungen exemplarisch zu zeigen ist, wozu einen ein regelmäßiges Tagebuchschreiben befähigen kann.
Herzlichen Dank, lieber Olaf Georg Klein!
Buchtipps rund um das Tagebuch:
Etty Hillesum, Das denkende Herz, Rowohlt
Der Verein Deutsches Tagebucharchiv e.V. in Emmendingen (Breisgau) führt seit seiner Gründung 1998 ein beachtliches Archiv an Tagebüchern und Briefen ganz normaler Deutscher. Ein Besuch lohnt sich: Am 2. September 2019 endet die Sommerpause des Archivs. Am 22. August gab es in der Frankfurter Allgemeinen einen spannenden Beitrag (hier kostenpflichtig) darüber.
Und hier das Buch von Olaf Georg Klein:
Immer die Lektüre wert ist das berührendste und wichtigste Tagebuch der Literatur, Das Tagebuch der Anne Frank. Anlässlich des 90. Geburtstagsjahrs von Anne Frank ist 2019 eine Sonderausgabe erschienen.
Eine tolle Anregung, Judith, Danke. Und zudem ein informatives Interview mit Olaf Georg Klein.
Das bringt mich wieder dazu, in meinen alten Tagebüchern zu stöbern.
Herzlichst hans j hinken
Danke Dir, Hans! Freut mich sehr. Judith