Sebastian Lörscher kann etwas Besonderes: Er übersetzt Gesprochenes instant in Skizzen und Geschichten. Mit Papier und Stift überwindet er Grenzen – und schafft Freu(n)de.
Die herannahende S-Bahn, die Weite der Stadt, all das ist weit fort, wenn man hinaustritt auf den Balkon: Hier oben im 5. Stock eines alten Hauses in der Nähe der Warschauer Brücke in Berlin-Friedrichshain ist Sebastian Lörschers Atelier. Das Rauschen der Stadt dringt kaum herauf. Was viel heißt im quirligen Friedrichshain. Das Atelier teilt sich der Illustrator und Autor mit vier anderen Künstlern. Ruhig ist es im Augenblick, so ruhig, wie es in Corona-Zeiten eben sein muss. „Ich bin normalerweise ständig unterwegs“, sagt Sebastian, „aber am liebsten reise ich.“ Das sei ihm das Liebste: wegen der Menschen und Geschichten. Beides findet er überall und immer. „Im Moment geht das nicht. Da widme ich mich Illustrations-Jobs.“
„Ich zeichne eigentlich ständig. Nachts, in strömendem Regen, bei Schnee und Wind, inmitten von tanzenden Leuten, bei Demos. Da ist Bewegung, das mag ich.“
Sebastian Lörscher
Während seines Studiums Kommunikationsdesign an der FH Würzburg und der Kunsthochschule Weißensee in Berlin entdeckte er seine Freude an der Arbeit mit Menschen. „Der Kontakt zu ihnen, das Eintauchen in alle Gesellschaftsschichten ist mir wichtig. Gerade in Ländern, die anders sind als das eigene,“ sagt Sebastian Lörscher. Papier und Stift sind seine Dauerbegleiter. „Was aufs Papier kommt, plane ich nicht vorher. Ich merke erst beim Zeichnen, was mich gerade interessiert. Springt mich etwas an, zum Beispiel die Struktur eines Hauses, lege ich los. Dann entwickelt sich daraus mehr.“
Making friends in Indien – und in Haiti
2011 reist Sebastian Lörscher im Rahmen eines Austauschprojekts seiner Berliner Kunsthochschule nach Bangalore. Mit dabei sind 14 Kommilitonen. „Anmiationskünstler, Performancekünstler, Filmemacher, wir waren ein breites Spektrum.“ Mit Unterstützt des Goethe Instituts hielten sich die Studenten einen Monat in Indien auf, um in Kooperation mit einer Kunsthochschule vor Ort eigene Projekte zu erarbeiten.
„Ich hatte gar keinen Plan,“ sagt Sebastian. „Also habe ich mich mit dem Skizzenbuch an die Straße gesetzt und gezeichnet.“ Beim Zeichnen ergaben sich Begegnungen. Immer wieder scharten sich die Menschen um ihn. „Bangalore war wie ein Rausch, ich war so fasziniert von den Menschen und dem, was ich erlebte.“ Es entstanden gezeichnete Geschichten, Skizzen auf der Grundlage von Gesprächen. Das Zeichnen war Türöffner und bildete die Grundlage für Sebastian Lörscher Buchband Making Friends in Bangalore.
„Zeichnen, was der Moment hergibt“
2012 reiste Sebastian Lörscher wieder. Diesmal nach Port-au-Prince, Haiti. Er blieb ein halbes Jahr, unterrichtete Englisch und Zeichnen an einer Schule im Slum für Kinder und Jugendliche. „Ich wollte gern in ein Land, in dem ich mit meiner Fähigkeit etwas beitragen und anderen helfen kann“, sagt er. Und erlebte den Spaß und das Selbstvertrauen, das Kinder durch das Zeichnen erfahren. Er sah, wie sie aufblühen und an sich zu glauben beginnen. Eine Schülerin von damals unterstützt er weiterhin. „Die Kinder haben dort wenig Perspektiven, aber sie war zielstrebig und wusste schon damals, mit vielleicht 11 Jahren, dass sie auf eine Journalistenschule gehen möchte. Also übernahm ich, als es soweit war, die Gebühren für sie.“ Seine Erfahrungen in Haiti verarbeitete er in seinem Buch Haiti Cheri (Einblicke und Informationen gibt es hier). Es entstand nach seiner Zeit dort. „Ich hatte das Buch als gezeichnete Reportage im Kopf. Dinge, die mich faszinieren, merke ich mir. Sie sind wie ein guter Filter.“
Gezeichnete Reportagen in Alterswohnheimen und auf der Straße
Auch in seinem Wohnort Berlin hat Sebastian Lörscher Projekte initiiert, die vom Leben an den Orten erzählen, die weniger im Fokus der Beachtung stehen: in einer Schwulen-Alterswohnheim, auf der Straße bei Obdachlosen, die aus ihrem Leben erzählen, und in einer alternativen WG in Potsdam. Hier begleitete er im Auftrag des Magazins „Brigitte Wir“ eine 70-Jährige beim Einzug. Immer wieder holt ihn auch die Lehre ein. In einem Flüchtlingsheim in Lichtenberg gab er jüngst über drei Monate hinweg Zeichenunterricht. Ein Wohnheim aus Charlottenburg hat neulich angefragt. „Da entsteht viel, und ich werde oft angefragt.“
Immer wieder geht Sebastian Lörscher Auftragsarbeiten nach. „Das Live-Zeichnen bei Unternehmen gehört dazu“, sagt er. „Ich nehme an Besprechungen und Workshops teil und bin zeichnender Protokollant. Was ich höre, bringe ich zu Papier. Ich nenne das ‚Graphic Recording‚.“ Das Komplexeste, das er je begleitet habe, war ein philosophisches Symposium. „Ich verstand kaum etwas. Aber nach einer Weile hatte ich mich eingehört.“ Und alles zu Papier gebracht.
Die Kunden wissen, was er kann. „Ich habe einen Formen- und Bilderschatz in meinem Kopf, auf die ich zurückgreifen kann.“ Zum Glück können alle teilhaben.
Weitere Informationen:
Website von Sebastian Lörscher
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