Es ist, wie es ist: kompliziert. Gemeint ist natürlich die Weltenlage. Sie erträgt sich am besten mit Geduld, Ruhe und Ablenkung. An Herbstabenden empfehle ich Schauergeschichten bei Kerzenschein – oder das Notizbuch für die eigenen Gedanken. Denn auch Schreiben hilft. Was für ein Jahr!
2020 ist alles anders. Was gleich bleibt, ist der Herbst mit seinen Farben, seinem Wind, der allmählich einziehenden Dunkelheit. Sich am Ende eines Tages bei einer Tasse Tee dem Lesen zu widmen, bringt uns zur Ruhe. Im Kopf auf Reisen zu gehen, verträgt sich für mich noch immer auf das Beste mit Grusel. Neben schaurigen Klassikern zwischen zwei Buchdeckeln empfehle ich Notizbücher, die dabei helfen, Gedanken schreibend zu sortieren. Hier meine Tipps für die Zeit um Halloween / Bonfire Night / Samhain und Allerheiligen bzw. All Souls‘ Day – und damit vielerorts ein paar freie Stunden:
Theodor Storm, Der Schimmelreiter
„Jetzt aber kam auf dem Deiche etwas an mich heran; ich hörte nichts, aber immer deutlicher, wenn der halbe Mond ein karges Licht herabließ, glaubte ich eine dunkle Gestalt zu erkennen, und bald, da sie näher kam, sah ich es, sie saß auf einem Pferde, einem hochbeinigen hageren Schimmel; ein dunkler Mantel flatterte um ihre Schultern, und im Vorbeifliegen sahen mich zwei brennende Augen aus einem bleichen Antlitz an.“
Theodor Storm, Der Schimmelreiter
Der mare-Verlag hat eine Ausgabe dieses Klassikers neu herausgebracht: im kleineren Format, mit der Sonne und Deichlandschaft Nordfrieslands auf Leinen im Papierschuber. Die Novelle erschien erstmals 1888. Theodor Storm schrieb sie in Anlehnung an die Sage eines „gespenstigen Reiters“, die er in seiner Kindheit hörte. Er wob daraus die Erzählung um den Deichgrafen Hauke Haien und sein Leben zwischen technischem Fortschritt, Tradition und der Macht der Natur. Das Rauschen des Meeres ist beim Lesen stellenweise hörbar. Perfekte Lektüre für den „Grusel und die Behaglichkeit einer warmen Wohnstube“ (siehe Nachwort!).
Henry James, Die Drehung der Schraube
Südengland war schon immer eine Gegend, die Henry James liebte. Der amerikanisch-britische Schriftsteller, der bevorzugt in besten Kreisen unterwegs war, schrieb Romane wie Washington Square und Daisy Miller. Sein Haus im englischen Rye, das Lamb House, ist unbedingt einen Besuch wert. Wenn auch nicht jetzt. Lesen Sie James stattdessen. Zum Beispiel die Gespenstergeschichte Die Drehung der Schraube (im Original The Turn of the Screw). Die Geschichte um eine Gouvernante, die zwei Waisenkinder auf einem abgelegenen Anwesen betreuen soll, erschien 1898. Oscar Wilde beschrieb sie als „absolut wunderbare, giftige kleine Horrorgeschichte“. Ich wähle den Band aus der Reihe „Geisterhand“ des Kampa Verlags.
Bram Stoker, Draculas Gast
Auf Bram Stoker habe ich hier schon einmal hingewiesen. In wenigen Tagen beginnt das Bram Stoker Festival in Dublin, zum ersten Mal vor allem digital. Nichts für Sie? Dann leisten Sie sich doch den Erzählband Draculas Gast mit sechs Geschichten von Bram Stoker. Die titelgebende Erzählung war ursprünglich ein Teil von Dracula und kann es gut damit aufnehmen. Weitere Favoriten im Band: „Das Haus des Richters“ und „Die Squaw“. Unterhaltsamer Schrecken in Kurzform!
Notizbuch „Dracula“ von Paperblanks
Für Notizen in diesem vermutlich besonders langen Herbst und Winter gibt es ein Pendant aus dem Sortiment von Paperblanks. Das Unternehmen, das kanadischer Autor und Verleger 1992 auf der Suche nach dem perfekten Notizbuch gründete, bietet ein besonders ansehnliches Exemplar für alle Vampirfans. Der Einband des Notizbuchs „Dracula“ ist geprägt mit einer Manuskriptseite mit Stokers Handschrift. Es kommt mit Klappumschlag, Lesebändchen und Innentasche.
Daphne du Maurier, Wenn die Gondeln Trauer tragen
Die Herbstzeit in Venedig kann besonders düster sein. 2020 sind die Gassen und Plätze wie leergefegt. Corona erschwert das Reisen, was auch Positives hat: Venedig kommt zu etwas Ruhe. Dass sie vordergründig sein kann, wissen wir. Beleg? Daphne du Mauriers Klassiker Wenn die Gondeln Trauer tragen. Er ist auch auf Papier ein Erlebnis und in einem Atemzug gelesen. Wir folgen einem jungen Ehepaar durch Venedig. Während es dort durchatmen möchte, gezeichnet vom Verlust seiner kleinen Tochter, gerät das Paar in einen gefährlichen emotionalen Strudel. Er wird beiden noch am Ort zum Verhängnis. Im Buch des Insel Verlags enthalten ist auch die legendäre Erzählung Die Vögel.
Edgar Allan Poe, Unheimliche Geschichten
„In Paris, an einem stürmischen Herbstabend des Jahres 18**,
aus Edgar Allan Poe, „Der entwendete Brief“ in Unheimliche Geschichten
kurz nach Einbruch der Dunkelheit, genoss ich den doppelten
Luxus der Meditation und einer Meerschaumpfeife in
Gesellschaft meines Freundes C. Auguste Dupin in seinem kleinen, nach hinten gelegenen Bücherkabinett oder Studierzimmer, au troisième, No. 33, Rue Dunôt, Faubourg St. Germain. Mindestens eine Stunde schon saßen wir in tiefem Schweigen…“
Hervorragend übersetzte Geschichten vom Meister des Abgründigen, Edgar Allan Poe, hat der Deutsche Taschenbuch-Verlag (dtv). Auf der Herausgeberschaft von Charles Baudelaire basieren gleich zwei Bände randvoll mit Unheimlichen Geschichten, für die Poe (1809-1849) weltweit bekannt geworden ist. In seiner Heimat Amerika galt er dafür anfangs als Provokateur.
Credits: dtv Credits: dtv
Poe hat ein Talent für die Bloßlegung der Angst: Das erkennt der Leser bei genauer Betrachtung schon am Einband. Denn die transparente Schutzumschläge der Bände zieren feine Zeichnungen von Paul Jackson. Der in Toronto und Brighton lebende Künstler nimmt in seinen düsteren Motiven gern den Tod vorweg. Unbedingt lesen!
…und weil wir in wahrhaft historischen Zeiten leben, in denen ganz nebenbei noch die US-Wahlen vor der Tür stehen, hat Halloween die Köpfe hinter dem US-Kartenlabel Hello!Lucky (Gründerinnen Eunice James and Sabrina Moyle) zu einem spannenden Motiv inspiriert.
0 Kommentare zu “Lebensfreude | Von schwarzen Katzen und Gestalten im Nebel: Abgründige Geschichten für den Herbst”