Seit ihrer Kindheit ist Nathalie Handal eine Weltbürgerin: Geboren in Haiti, wuchs die Tochter palästinensischer Eltern in Bethlehem auf. Später studierte sie in den USA und England Poetik, Drama und Literatur. Sie pendelt zwischen den USA und Europa. Aus dem Wandeln zwischen den Welten speist sich ihre Lyrik. Wer sie liest, überwindet Grenzen
„Das Schreiben führt uns an Orte von endloser Weite“ – Kurzinterview mit Nathalie Handal
Nathalie, wo sind Sie gerade? Wie haben Sie den Lockdown erlebt?
Im Moment bin ich zuhause in Queens, NY. Diese Quarantäneregelungen sind für nomadisch veranlagte Menschen wie mich eine Herauforderung. In die Stille zu gehen angesichts dieser speziellen Art von Bewegungslosigkeit, fällt mir schwer. Es ist eine turbulente, wenig friedvolle Unruhe.
Normalerweise pendle ich zwischen Rom und New York. Weihnachten verbringe ich immer in Berlin, wo meine Schwester lebt. Berlin ist eine kantige, exzentrische Stadt mit einem scharfen Nachhall. Seit ich 2010/11 als Picador Gastprofessorin für Literatur in Leipzig tätig war, bin ich immer wieder nach Berlin gekommen. Die Zeit in Leipzig war so erfüllend. Die Studierenden, die ich in Kreativem Schreiben unterrichtete, waren dynamisch, voller Phantasie und Herz. Leipzig selbst ist übrigens erstaunlich. Ich fühlte mich dort den Bäumen sehr nah. Auch im übertragenen Sinn: Ich wohnte in der Nähe vom Friedenspark („Peace Park“). Das hat mich zu einem Gedicht inspiriert. Es trägt den Titel „Freude“ und geht so:
I find all my dreams in one room
a chair in the middle of the Peace Park
a damaged voice left in pieces
so I can hear it’s entire range
I see a window of shadows,
and think, damn it Schiller,
all this so I can write about
this odd thing called joy.
Nathalie Handal, „Freude“
Wenn Sie zurückdenken: In welchem Jahr begann Ihre Arbeit als Künstlerin?
Jederzeit – und gestern.
Ihre Perspektive als Lyrikerin und Autorin in einem Satz?
Das Schreiben führt uns an Orte von endloser Weite. Poesie erlaubt es dem Schmerz in uns, zur Liebe zu finden.
Lieblingsstädte zum Schreiben – in Europa, Lateinamerika, der Arabischen Welt, den USA?
Paris – hier bin ich nostalgisch.
Rom, wo ich das Rätselhafte und das Erotische finde.
Mexico City, das meinen Geist in immer neue Töne und Nuancen einhüllt.
Bethlehem, das mich zu jedem Augenblick in jede Epoche entführt.
New York City, weil seine Straßen mein Zuhause sind, auch in der Subway.
Ohne welches Produkt können Sie nicht schreiben?
Ein Blanko-Notizbuch von Fabriano.
Ein Ereignis, das Sie und Ihre Arbeit nachhaltig beeinflusst hat?
In frühem Alter zu entdecken, dass Worte mich in alle Welten führen können, die zu betreten ich den Mut habe.
Welches war Ihre bisher schönste Erfahrung als Künstlerin?
Jedes Mal, wenn ich mit einer geschriebenen Zeile zufrieden bin.
Projekte, in denen ich Kunst und Stadt miteinander verbinde. Dazu zählt der Moment, in dem mein Gedicht “Lady Liberty” für das Projekt Poetry in Motion in New York ausgewählt wurde. Bei dieser Aktion der Poetry Society of America in Kooperation mit der Kunstsparte der New Yorker Verkehrsgesellschaft MTA (MTA Arts for Transit and Urban Design) werden in allen öffentlichen Verkehrsmitteln New Yorks Gedichte als Poster aufgehängt: in U-Bahnen, Bussen, Taxen, aber auch auf den Fahrtickets, den sogenannten MetroCards. Ausgewählte Gedichte werden von mehr als sieben Millionen Menschen täglich gelesen. Mein Gedicht “Lady Liberty” war im Design von Olimpia Zagnoli überall in New York zu sehen. Das fand ich überwältigend.
Herzlichen Dank, Nathalie!
Werke von Nathalie Handal:
- Life in a Country Album, University of Pittsburgh Press 2020
- Waterlines. Damocle Edizioni, Venedig 2016
- The Republics, University of Pittsburgh Press 2015
- Poet in Andalucia, University of Pittsburgh Press 2012
- Love and Strange Horses, University of Pittsburgh Press 2010
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