Venedig im Winter? Die Stadt des Wassers hat den Ruf, im Winter speziell zu sein, nicht zu Unrecht. Dafür beschenkt sie Reisende mit einem ganz eigenen Licht und der seltenen Möglichkeit, sich nicht durch ihre Gassen drängeln zu müssen.
Der Winter in Venedig ist streng. Er ist von einer Kälte, die einem auf spezielle Weise in die Glieder fährt. Das Wasser, das einen in von unten her gurgelnd begleitet, gefriert an manchen Bordsteinkanten der Kanäle. Das Acqua Alta, das Hochwasser, ist spätestens im November ein unliebsamer, aber altbekannter Begleiter. Es ist fahrlässig, das Haus ohne Wollhosen und gefütterte Stiefel zu verlassen. Und doch umgibt mich eine Wärme, die mir andere Orte im Winter nicht vermitteln. Denn Venedig hat Wasser, Geschichte(n), Papier.
San Michele und „sullaluna“
Es ist tatsächlich wolkenlos an diesem Dezembertag. Der Himmel ist blau. Auf in die Lagune – an der Fondamenta Nuove besteigen wir ein Vaporetto in Richtung Murano. An der Friedhofsinsel San Michele steigen wir aus. Sie liegt heute in schönstem Licht.
San Michele ist menschenleer. Es liegt wohl an der Kälte. Zwei Venezianer, neben uns die einzigen Besucher hier draussen, stellen Kerzen an ein Grab. Kurz vor Sonnenuntergang sind sie wieder fort. Wir suchen noch eine Weile nach dem Grab des Dichters Joseph Brodsky. Mein Notizbuch bleibt in der Tasche. Die Finger sind klamm.
„‚Abbilden!‘, wispert das Winterlicht, das nach seiner langen Reise durch den Kosmos schlicht an der Ziegelwand eines Hospitals hängen bleibt oder heimkehrt in das Paradies von San Zaccarias Giebel. Und du spürst die Müdigkeit dieses Lichts (…), während die Erde dem Lichtgestirn die andere Wange bietet.“ Joseph Brodsky
Später, im Ghettoviertel. An der Fondamenta della Misericordia bleiben wir vor einem kleinen Laden stehen. Es zieht uns hinein. Von außen sehe ich nur schlichte Holztische und Bücher. Das sullaluna, unsere Entdeckung, ist ein Buchcafé. Seine Inhaberin Francesca Rizzi nennt es Libreria-Bistrot. Andere bezeichnen diesen Ort als Caffeteria Wine Bar.
Das sullaluna („auf dem Mond“) eröffnete Mitte November 2017. Francesca Rizzi und ihr Mann Rodolfo haben die Räumlichkeiten an der Fondamenta dafür mit viel Geschick renoviert. Besucher finden im sullaluna nicht nur sorgsam ausgewählte Bilderbücher und Graphic Novels zum Kauf, sondern eine Oase zum Durchatmen. Das Ambiente des Raums und feine Biokost entspannen. Wein und Prosecco stammen aus eigenem Anbau. Während unserer Unterhaltung frage ich die Inhaberin, wo sie die geschmackvollen Lampen an der Decke fanden. Sie grinst. „A Berlino.“
Ich werde sicher wiederkommen. Hier lässt es sich wunderbar sitzen, lesen, essen, trinken. Und schreiben. Und natürlich verlasse ich diesen Ort nicht ohne ein Buch.
Auch das ist eine Entdeckung, „La famiglia Lista“ von Kyo Maclear aus Toronto (2016). Worum es geht? Familie Liszt schreibt Listen. Vom Großvater bis zur Katze sind in dieser Geschichte alle Familienmitglieder damit beschäftigt, Listen für jede Lebenslage anzufertigen. Das geht bekanntlich zu allen möglichen Themen. Zu den vielen Tönen von Schwarz, zu schlimmen Krankheiten, Käsesorten, Songs von David Bowie. Sogar das Bauhaus, Nina Hagen und Kraftwerk finden sich auf Listen der Liszts! Zu fast allem finden sich Zettel in jedem Winkel des Familienhauses. Sie entstehen jeden Tag außer Sonntag. Das Problem ist nur: Es gibt Lücken. Was, wenn es da plötzlich etwas gibt, das auf keiner der Listen steht?
Das Bilderbuch von Kyo Maclear ist für alle Altersstufen, für Menschen, die Pläne lieben und sich trotzdem noch überraschen lassen können. Dazu phantastische Illustrationen von Júlia Sardà aus Barcelona!
Zeit für Skizzen und Notizen – in Dorsoduro
In der Galleria dell’Accademia in Dorsoduro verbringen wir viel Zeit mit Hieronymus Bosch. Werke des niederländischen Malers sind im Palazzo Grimani und in der Accademia ausgestellt. Mit den „Visions of the Hereafter“, die Bosch zumindest zugeschrieben werden, fasziniert Hieronymus Bosch mich immer wieder. Nicht selten sehe ich in der Accademia Besucher mit Notizbuch. Das Spuren des alten Venedig haben auf fast jeden eine besondere Wirkung.
Venedig – einst eine Stadt des Buchdrucks
In der Nachbarschaft der Accademia sehen wir im Ladengeschäft des venezianischen Druckers Paolo Olbi vorbei. Beinahe ständig ist er irgendwo in den Medien präsent. Seine Produkte aus Papier und Leder umgibt das Flair der Stadt. Er bannt es auf seine Papiere, Alben, Fotoalben und Karten.
Wer in der Geschichte der Stadt Venedig gräbt, findet reichlich Papier. Venedig war eine Hochburg des europäischen Druckereigewerbes. Schon 1469, knapp 20 Jahre nach der Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg, gab es in der Stadt die erste Druckerlaubnis. Venezianische Patrizier sahen im Drucken die Chance, Geld zu verdienen. Im Kommerz waren schon die frühen Venezianer gut. Bald kamen Drucker wie Aldus Nuntius (1449-1515) nach Venedig und hier zu einiger Berühmtheit. Nuntius begann 1492, klassische Literatur in gedruckter Form zu verkaufen. Es folgten von Landkarten, Noten, Schaubilder.
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